Gustav Schwab

Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums

Aus der Heraklessage

näher kamen, ging die erstere ruhig ihren Gang fort, die andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüngling zu und redete ihn an: »Herakles! ich sehe, daß du unschlüssig bist, welchen Weg durch das Leben du einschlagen sollst. Willst du nun mich zur Freundin wählen, so werde ich dich die angenehmste und gemächlichste Straße führen; keine Lust sollst du ungekostet lassen, jede Unannehmlichkeit sollst du vermeiden. Um Kriege und Geschäfte hast du dich nicht zu bekümmern, darfst nur darauf bedacht sein, mit den köstlichsten Speisen und Getränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übrigen Sinne durch die angenehmsten Empfindungen zu ergötzen, auf einem weichen Lager zu schlafen und den Genuß aller dieser Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu verschaffen. Solltest du jemals um die Mittel dazu verlegen sein, so fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder geistige Anstrengungen aufbürden werde; im Gegenteil, du wirst nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen und nichts auszuschlagen haben, was dir Gewinn bringen kann. Denn meiner Freunden gebe ich das Recht, alles zu benützen.«

Als Herakles diese lockenden Anerbietungen hörte, sprach er verwundert: »O Weib, wie ist denn aber dein Name?« - »Meine Freunde«, antwortete sie, »nennen mich die Glückseligkeit meine Feinde hingegen, die mich herabsetzen wollen, geben mir den Namen der Liederlichkeit

Mittlerweile war auch die andere Frau herzugetreten. »Auch ich«, sagte sie, »komme zu dir; lieber Herakles, denn ich kenne deine Eltern, deine Anlagen und deine Erziehung. Dies alles gibt mir die Hoffnung, du wurdest, wenn du meine Bahn einschlagen wolltest, ein Meister in allem Guten und Großen werden. Doch will ich dir keine Genüsse vorspiegeln, will dir die Sache darstellen, wie die Götter sie gewollt haben. Wisse also, daß von allem, was gut und wünschenswert ist, die Götter den Menschen nichts ohne Arbeit und Mühe gewähren. Wünschest du, daß die Götter dir gnädig seien, so mußt du die Götter verehren; willst du, daß deine Freunde dich lieben, so mußt du deinen Freunden nützlich werden; strebst du, von einem Staate geehrt zu werden, so mußt du ihm Dienste leisten; willst du, daß ganz Griechenland dich um deiner Tugend willen bewundere, so mußt du Griechenlands Wohltäter werden; willst du ernten, so mußt du säen; willst du kriegen und siegen, so mußt