Gustav Schwab

Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums

Aus der Heraklessage

Sohn Apollos, lehrte ihn den Gesang und den zierlichen Schlag der Leier. Herakles zeigte sich als gelehrigen Knaben; aber Härte konnte er nicht ertragen; der alte Linos war ein grämlicher Lehrer. Als er ihn einst mit ungerechten Schlägen zurechtwies, griff der Knabe nach seinem Zitherspiel und warf es dem Hofmeister an den Kopf, daß dieser tot zu Boden fiel. Herakles; obgleich voll Reue, wurde dieser Mordtat halber vor Gericht gefordert; aber der brühmte gerechte Richter Rhadamanthys sprach ihn frei und stellte das Gesetz auf, daß, wenn ein Totschlag Folge der Selbstverteidigung gewesen, Blutrache nicht stattfinde. Doch fürchtete Amphitryon, sein überkräftiger Sohn möchte sich wieder Ähnliches zuschulden kommen lassen, und schickte ihn deswegen auf das Land zu seinen Ochsenherden. Hier wuchs er auf und tat sich durch Größe und Stärke vor allen hervor. Als ein Sohn des Zeus war er furchtbar anzusehen. Er war vier Ellen lang, und Feuerglanz entströmte seinen Augen. Nie fehlte er im Schießen des Pfeils und im Werfen des Spießes. Als er achtzehn Jahre alt geworden, war er der schönste und stärkste Mann Griechenlands, und es sollte sich jetzt entscheiden, ob er diese Kraft zum Guten oder zum Schlimmen anwenden werde.

HERAKLES AM SCHEIDEWEGE

Herakles selbst begab sich um diese Zeit von Hirten und Herden weg in eine einsame Gegend und überlegte bei sich, welche Lebensbahn er einschlagen sollte. Als er so sinnend dasaß, sah er auf einmal zwei Frauen von hoher Gestalt auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Wesen Anstand und Adel, ihren Leib schmückte Reinlichkeit, ihr Blick war bescheiden, ihre Haltung sittsam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die andere war wohlgenährt und von schwellender Fülle, das Weiß und Rot ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe gehoben, ihre Haltung so, daß sie aufrechter schien als von Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug so gewählt, daß ihre Reize soviel als möglich durchschimmerten. Sie warf feurige Blicke auf sich selbst, sah dann wieder um sich, ob nicht auch andere sie erblickten; und oft schaute sie nach ihrem eigenen Schatten. Als beide